Ziege – Mensch

Emmanuel Denton: Nicht jeder kann Ziegen halten, man muss an ihr hängen, sich mit ihr verstehen. Die Ziege ist psychisch schwach, ein psychischer Stress kann sie umbringen. Man muss sie mögen, sonst funktioniert es nicht. Mit der Kuh geht das. Esel, Ziege, Hund, alle drei sind ganz anders mit dem Menschen verbunden als Kühe oder andere Haustiere.

Von einer Ziegengruppe geht sehr viel Macht aus

Sabine Denell: , sie haben sehr viel Energie, die auch mit der menschlichen zu tun hat. Eine Praktikantin war hier plötzlich in Tränen aufgelöst: „Plötzlich war ich mittendrin, aufgenommen von denen!“ Das ist etwas mütterliches, dieses Aufgenommenwerden von der Herde, so bedingungslos, ohne dass was vorher passiert. Bei einer Kuhherde dagegen, bei Pferden oder Straußen, bleibt die Distanz“.
– So wie auch der Hund dem Menschen nah ist?
Nein. Der Hund beobachtet den Menschen und versucht zu tun, was dem gefällt. Das würde einer Ziege nie einfallen.

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Foto: Pedro Fournier in seiner Poitevine-Herde

Hans-Peter Dill: Bevor wir uns für den neuen Mitarbeiter entschieden, hütete ich mehrere Tage mit ihm die Herde. Er wurde in die Herde aufgenommen, das war für mich ausschlaggebend. Und er ist total glücklich mit den Ziegen, es geht ihm richtig gut dabei. Er sagt, er fühlt sich geborgen.
Das Erlebnis, in einer Tierherde geborgen zu sein, findet auf einer archaischen Ebene statt, dadurch kann es sehr viel beim Menschen auslösen.
In einer Kuhherde bin ich nie so geborgen, weil diese Tiere mehr für sich sind, so abgeschlossen, nie so offen für den Menschen.
Beim Hüten kann man das am klarsten erleben: wie die mit mir mitgehen, auf mich achten. Wenn ich einschlafe, kommen sie mich wecken, wenn sie weiter wollen, sie zählen mich also zur Herde.
Trotz aller Interaktion innerhalb der Herde, bildet sie doch ein Ganzes und ist nach aussen abgeschlossen. Und dann wirst du in diesen Organismus aufgenommen, in diese gleitenden Machtmechanismen mit hineingenommen und getragen! Es ist schwierig über diese Sachen zu reden, weil wir dafür keine Sprache haben.

Das »ewige Lamm«

In der Reportage von Gabriele Goettle sagt Hans-Peter Dill: »Wir haben ja heute morgen über die psychische Belastung gesprochen beim Schlachten. Und die zweite psychische Belastung ist für mich das Melken. Wenn ich eine Ziege mit der Hand melke, dann riecht sie an meiner Achselhöhle, nimmt den Geruch auf und entscheidet: Dieses Lamm ist in Ordnung!
Wenn ich ein sehr schwieriges Tier habe, dann muss ich bei der Geburt dabei sein, den Geburtsschleim hier auf meine Hand streichen und die Hand dann von dem Tier ablecken lassen. Dabei nimmt es den Geruch von mir auf, gemischt mit dem seines Lammes, und ich werde in diesem Moment als Lamm voll integriert. Von da an habe ich kein Problem mehr. Die Ziege ist mir als Mutter gewogen. Für immer!
Wenn ich aber nur mit meiner Melkautomatik dastehe, muss ich es anders machen. Ich muss die Verbindung zum Energiefeld der Mutter herstellen, innerlich. Ich als Lamm muss sagen, es ist o.k., dass ich deine Milch nehme. Ich weiß, dass Frauen damit anders umgehen, sie identifizieren sich quasi mit dem Muttertier. Ich kann nur das Lamm sein. Das baut den psychischen Stress ab. Bei mir vor allem.
Früher habe ich herumgerätselt. Warum ist das derart anstrengend, wie kommt es, daß ich nach dem Melken immer so erschöpft bin? Ich wußte nur, ich habe ein Pro­blem. Aber welches?
Ich habe mich gefragt, vielleicht hat es was mit Sexualität zu tun, vielleicht fährst du total auf die Euter ab, vielleicht muss das bearbeitet werden ? Dann kam ich aber dahinter, dass es nicht um die körperliche Ebene geht, sondern um die spirituelle. Um den Mutterkontakt. Seither spüre ich sogar eine gewisse Leichtigkeit dabei.«

»…da brauche ich keinen intellektuellen Diskurs«

Hans-Peter Dill: »Die körperliche Arbeit hebt einen davon weg, von diesem ständigen Denkenmüssen in irgendwelchen Diskursen. Ich glaube auch nicht, dass das alles stimmt, dass es wirklich einen intellektuellen Dis­kurs gibt, oder sonst was.

Also, diese Differenz zwischen Intellektualität und Blödheit, die kann ich nicht mehr so richtig einsehen. Für mich ist die Beschäftigung mit dem Euter intellektuell äußerst anspruchsvoll. Mit dem Euter als Symbol der Gebenden und meiner Hilfsbedürftigkeit. Das ist eine tägliche Herausforderung. Ich sehe das da ganz unmittelbar, dass ich darauf angewiesen bin, als Empfangender dazustehen, um diese Milch zu nehmen, die sie buchstäblich aus Holz, aus Gehölzen, machen können.
Das nagt ja auch am Selbstverständnis. Sich dem auszusetzen und nicht zu sagen: O.k., ich mache meine Arbeit, Disziplin muss sein. Pünktlich fang ich an und Schlufi, mehr ‘will ich darüber nicht wissen!

Es ist einfach so, dass ich, während ich arbeite, so viel Zeit habe, genau zu gucken, und zu spüren, was da ist. Dass die Ziegen uns eigentlich zeigen, was sie für Wesen sind, was wir für Wesen sind und wie das zusammenhängt. Ich bin ja direkt an der Quelle, ich muss den Umweg über die Abstraktion gar nicht gehen. Ich spür’s direkt, da brauche ich keinen intellektuellen Diskurs. Der ist eigentlich – das ist mit klar geworden – nur dafür da, den Mangel zu überspielen. Und dieser Mangel entsteht, weil man mit den wesentlichen Dingen nicht mehr in Berührung ist.« S. 208-211 aus Gabriele Goettle, Das ewige Lamm – aus dem Leben eines Ziegenhirten. In: Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit, Frankfurt 2007

 

Was eine Bindung ermöglicht

Hierzu gibt es sicher weitere Ansichten, hier vorerst eine Einsicht, wie sie Cristina Perincioli so beschreibt: Ich habe meine heutige Herde mit einer Lämmerschar begonnen, die ich zehn Tage übernahm aus einem Betrieb, wo sie in dieser Zeit an den Saugeimer gewöhnt waren und nie auf einer Wiese und damit wurmfrei starteten. So war ich ihre einige Bezugsperson, sie folgten mir problemlos überallhin. Nach zehn Jahren ist dies nicht mehr so – was ist passiert?

Ich liess die Lämmer immer bei ihren Müttern aufwachsen, trennte sie auch später nicht. So entstanden lauter Kleinfamilien, die sich untereinander nicht besonders gut vertragen und deren Jungziegen nicht mir folgen, sondern ihren Müttern. Zwischendrin hatten drei Lämmer das Pech, dass ihre Mütter starben, sie wuchsen als Jungziegen in einer Gruppe auf – so vertragen sich bis heute – und sie nahmen mich als Leittier an. Diese inzwischen alten Ziegen halfen mir, die Herde beim Hüten zusammenzuhalten. Nun kaufte ich noch vier Toggenburger dazu, diese bilden innerhalb der Herde einen eigenen Clan und laufen ganz hinten mit – wenn sie denn nicht was besseres vorhaben…

Wie dies ändern?
Dieses Jahr wird wieder einen Schwung Zicklein geboren, ich versuche sie möglichst früh von ihren Müttern zu trennen und mit der Flasche aufzuziehen. Vor allem sollen sie früh in einer Gruppe Gleichaltriger zusammengefasst werden. Mir schwebt eine Aufzucht vor, wie es Hans-Peter Dill in seinem Betrieb hält. Von dort kaufte ich einen jungen Bock – der ist erstaunlich gut zu führen. Er akzeptiert den Menschen als Leittier, obwohl er mit minimalem Kontakt zu Menschen aufwuchs, aber eben in einer Gruppe Gleichaltriger ohne seine Mutter.